Vor einigen Wochen habe ich den Übergang von smarten Systemen zu Digitalen Zwillingen beschrieben. Digitale Zwillinge sind digitale Repräsentationen eines Objekts oder Systems mitsamt seinen Eigenschaften und Wirkungszusammenhängen. Mit in Echtzeit angelieferten Datenströmen aus am echten System eingesetzten Sensoren kann ein Digitaler Zwilling jederzeit den aktuellen Zustand des Systems nachvollziehen. Digitale Zwillinge verfügen – zumindest in der umfassenderen Umsetzung, von der dieser Blogpost handelt – über vier Funktionen: Monitor, Control, Simulate und Optimize. Was bedeutet das bezogen auf eine praktische Anwendung?
Im vorherigen Blogpost habe ich eine zentrale Herausforderung bei der Konzeption von Digitalen Zwillingen angesprochen, nämlich die Auswahl der abzubildenden Eigenschaften und Prozesse. Wir haben uns vor diesem Hintergrund in letzter Zeit häufiger mit der Modellierung von Strassen und anderen Verkehrsnetzen befasst. Welches sind hierfür relevante Eigenschaften, und wie könnte ein «Digitaler Zwilling Strasse» aufgebaut sein?
Modellierung von Strassen
Für Strassen und Strassenzüge kommen im Paradigma des Digitalen Zwillings ganz verschiedene Anwendungsfälle für die vier Funktionalitäten – Monitor, Control, Simulate und Optimize – in Frage:
- Monitor, beispielsweise: Überwachung des Verkehrsflusses und des Verkehrszustands anhand von fest verbauten Sensoren (Induktionsschleifen, Seitenradare u.ä.), optischen oder Wärmebildkameras und zum Beispiel Floating Car-Daten aus Flottenmanagement-Systemen, von GNSS-Clients oder aus GSM-Trilateration.
- Control, beispielsweise:
- aktive Verkehrsbeeinflussung durch dynamische Schaltung von Lichtsignalanlagen, Spuröffnungen bzw. -sperrungen oder dynamische Geschwindigkeitssignalisation
- Management einer Verkehrsinfrastruktur im Betrieb, zum Beispiel Steuerung von Wartungs- und Unterhaltsarbeiten (Pflege von Böschungen, Fahrzeugrückhaltesystemen, Strassenabwasserbehandlungsanlagen, etc.)
- Simulate, beispielsweise:
- Modellierung von Verkehrsflüssen und Geschwindigkeiten, Erreichbarkeiten oder Einzugsgebieten im motorisierten Individualverkehr (MIV), im öffentlichen Verkehr (ÖV) und multimodal
- Modellierung von Nachfragebeziehungen im Fuss- und Veloverkehr oder Simulation von Personenströmen
- Optimize, beispielsweise: bezüglich Verkehrssicherheit und Infrastrukturkapazität optimierte Abwicklung von Verkehr im echten System
Je nach oben beschriebenem Anwendungsfall würde der Digitale Zwilling das System Strasse anders modellieren. Ein umfassender (manche würden sagen: ein eigentlicher) Digitaler Zwilling integriert die unterschiedlichen Sichten auf das Verkehrssystem:
- eine an klassische Verkehrsmodelle angelehnte Knoten-Kanten-Sicht auf Verkehrswege für Routing- und Erreichbarkeitssimulationen im MIV und ÖV,
- eine flächige oder gar dreidimensionale Repräsentation für fussgänger- und velozentrierte Fragen,
- eine hochdetaillierte, BIM-verwandte Repräsentation für Betriebsfragen über den gesamten Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur.
Digitaler Zwilling für automatisiertes Fahren
Ein besonders spannender Fall, mit dem wir uns schon eingehend auseinandergesetzt haben, ist das automatisierte Fahren. Je nach angestrebtem SAE-Level (grob: Reifegrad) des automatisierten Fahrens und des Einsatzkontexts wird der Bedarf nach Kommunikation zwischen Fahrzeugen sowie zwischen Fahrzeugen und der Infrastruktur unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Für die Konzeption eines Digitalen Zwillings Strasse, der automatisiertes Fahren unterstützt, ist vor allem der letztgenannte Kommunikationsweg, im Jargon Vehicle-to-Infrastructure-Kommunikation (V2I), ausschlaggebend.
Mittels des Digitalen Zwillings für automatisiertes Fahren werden Fahrzeuge und Infrastruktur miteinander Informationen austauschen: Denkbar sind sicherheitsrelevante Informationen zum Betriebszustand, zu Fahrzeugpositionen, zum Infrastrukturzustand, zur Witterungssituation und vielem mehr (inklusive prognostischer Aussagen). In einem höheren Reifegard wäre auch die Steuerung von Aspekten des Verkehrsgeschehens durch eine Zentrale denkbar.
Operational Design Domains
Schon fortgeschritten ist die Arbeit zur Definition von Betriebsanforderungen: Fahrzeugseitig spricht man hier von den Operational Design Domains (ODD). Damit beschreiben Fahrzeughersteller und Original Equipment Manufacturers (OEMs) operative Domänen für automatisiertes Fahren auf unterschiedlichen SAE-Levels. ODD sind festgelegt durch räumliche, zeitliche und kontextuelle Kriterien zu verschiedenen Einflussgrössen (Wetter, Umwelt, Infrastruktur und andere Verkehrsteilnehmende). Beispielsweise könnte eine ODD wie folgt lauten: „Fahrt auf dem untergeordneten Strassennetz, ausserorts, im flüssigen Verkehr, bei statisch signalisierten Geschwindigkeiten zwischen 60 und 80 km/h, in komplexer Topografie, bei trockenen Bedingungen mit meteorologisch uneingeschränkter Sicht.“
Infrastructure Support Levels for Automated Driving
Auf der Seite des Infrastrukturbetreibers stehen den ODD sogenannte Infrastructure Support Levels for Automated Driving (ISAD) (pdf) als zentrales Instrument für die Ermöglichung des automatisierten Fahrens gegenüber. ISAD sind digitale Repräsentationen der Ausstattungsmerkmale der physischen und (immer stärker auch) digitalen Verkehrsinfrastruktur. Beispielsweise kann eine Verkehrsinfrastruktur:
- noch komplett analog sein,
- Fahrzeugen statische Informationen (zum Beispiel zum Strassenverlauf) digital bereitstellen,
- Fahrzeugen statische und dynamische Informationen (zum Beispiel zum Verkehrsfluss, zum Fahrbahnzustand, etc.) digital bereitstellen oder gar
- das Verkehrsgeschehen aktiv steuern und optimieren.
Konzept und der way forward…
Mit verschiedenen ISAD-Ausprägungen können aus Betreibersicht unterschiedlich grosse Teile der fahrzeugseitigen ODD adressiert werden. Es ist nicht schwer zu sehen, dass die unterschiedlichen ISAD-Ausprägungen mit unterschiedlichen Komplexitätsstufen eines Digitalen Zwillings in Beziehung gesetzt werden können. Ein Digitaler Zwilling des Systems Strasse integriert ODD und gemäss jeweiligem ISAD zur Verfügung stehende Informationen in Echtzeit so, dass die Verkehrsinfrastruktur sicher für das Abwickeln (teil)automatisierten Verkehrs genutzt werden kann.

Zu leisten ist die Erstellung eines solchen Digitalen Zwillings nur durch die Verschmelzung der relevanten Aspekte verschiedener betreiberseitiger Systeme und Datengrundlagen. Herausfordernd ist dabei, dass diese Grundlagen heute typischerweise noch separat unterhalten (oder gar erst aufgebaut), in nicht-synchronen Rhythmen und aus in der Regel nicht aufeinander referenzierbaren Quellen gepflegt werden:
- Geographische Informationssysteme und deren Datengrundlagen zu Verkehrsnetzen und -flächen,
- High Definition Mapping-Grundlagen für automatisiertes Fahren,
- Managementinformationssysteme von Verkehrsinfrastrukturbetreibern mit ihren Fachapplikationen,
- Building Information Modelling-Repräsentationen von Verkehrsinfrastrukturen,
- Lokalisationssystemen und
- Systeme zur Erfassung von Umwelt- und Infrastrukturzuständen.
Künftig gilt es, diese Sichten und Datenquellen in einem Digitalen Zwilling zusammenzuführen und via roadside ICT-Infrastruktur im V2I-Kanal in Echtzeit mit den Akteuren im Verkehrssystem auszutauschen. Sie sehen, das Thema Digitaler Zwilling im Verkehrswesen bleibt herausfordernd und spannend!