UX für komplexe Fachanwendungen
Es gibt eine Unmenge von Fachartikeln und best practice Methoden zu den verschiedensten UX-Themen wie Nutzerforschung, Prototyping, Testing.
Doch häufig stellen wir bei EBP fest: Die vorgeschlagenen Methoden passen nicht in unseren Kontext. Es gibt keine Konversionsrate (Anzahl Besucherinnen einer Website, die einen Kauf tätigen), die man messen könnte. Wir können keine quantitative Umfrage durchführen, weil nur eine kleine Gruppe die Anwendung nutzt. Schnelle Prototypen sind schwierig, weil wir die Anwendung erst selbst noch verstehen müssen und uns bei Projektstart das Expertenwissen fehlt, um alle Schritte und Daten der Anwendung zu verstehen. Inspiration für Lösungen im Internet gibt es nicht, weil komplexe Fachanwendungen selten öffentlich zugänglich sind.
Das alles liegt daran, dass wir im Geschäftsbereich Informatik bei EBP keine Konsumentenprodukte und keine Websites für die breite Bevölkerung entwickeln. Wir entwickeln komplexe Lösungen für Fachpersonen. Aber worin genau liegt der Unterschied?
Konsumentenprodukte sind z.B. Online-Shops oder Reisebuchungsportale. Fachanwendungen dagegen unterstützen Spezialistinnen bei ihrer Arbeit, wie z.B. eine Karte zur Simulation verschiedener Szenarien von Hochwassersituationen in der Schweiz (Schadensimulator Hochwasserrisiko) als Entscheidungshilfe für Behörden, Planerinnen und Ingenieure.
Herausforderungen an das UX Design
- Die Nutzer verfügen über ein spezialisiertes Fachwissen. Das macht die Rekrutierung von Personen für Nutzerforschung und Tests von Prototypen schwieriger.
- Die Aufgaben der Nutzer innerhalb der Softwarelösung sind nicht linear, sondern verzweigt und haben oft kein eindeutiges Endziel. Die Softwarelösung soll komplexe Aufgaben und unstrukturierte Ziele unterstützen oder ermöglicht fundierte Entscheidungen zu treffen.
- Anwendungen, die auf einer komplexen Backend-Architektur und vielen veralteten Systemen basieren, machen ein Redesign nicht einfach.
- Wir haben es mit grossen Datenvolumina zu tun, die auf verschiedene Arten visualisiert und von den Nutzern analysiert werden.
- Als UX Designerin muss man sich in kurzer Zeit in neue komplexe Domänen einarbeiten, um die Nutzer und ihre Aufgaben zu verstehen.
- Das Umfeld, in dem die Anwendungen genutzt werden, erfordert oft das Einhalten hoher Sicherheitsstandards, z.B. bei Bundesbehörden. Das kann den Zugang zu den Systemen und Nutzern oder die Datenerhebung erschweren.
- In grossen Organisationen sind die Entscheidungswege oft bürokratisch und hierarchisch, was eine Arbeit nach agilen Methoden. Der Zugang zu Nutzern ist häufig schwierig und hürdenreich.
- Häufig gibt es für eine Fachanwendung keine Konkurrenzprodukte: Das Argument, dass ein besseres Nutzererlebnis die Nutzerzahlen erhöht oder den Verkauf fördert, kann die Projektverantwortlichen nicht von der Notwendigkeit von Nutzerforschung überzeugen. Stattdessen lässt sich der Nutzen einer guten User Experience beispielsweise mit der Steigerung der Effizienz der Mitarbeitenden oder einer Reduktion der Supportfälle weniger einfach messen.
Die üblichen UX Methoden zielen auf Anwendungen für ein breites Publikum ab und lassen sich auf Fachanwendungen oft nicht eins zu eins anwenden.
Hilfreiche Methoden
Es gibt jedoch Methoden, die bei der Entwicklung von komplexen Fachanwendungen helfen:
Contextual Inquiry
Die Beobachtung der Nutzer bei ihren Aufgaben im gewohnten Arbeitsumfeld hilft dabei, die komplexen Aufgaben zu verstehen, das Umfeld kennen zu lernen (Ablenkungen, Umfeld innerhalb der Organisation, physischer Arbeitsplatz) oder weitere Hilfsmittel für die Arbeit zu identifizieren. Wir haben zum Beispiel Beobachtungen mit Mitarbeitern des ASTRA durchgeführt, um die User Experience des Management-Informationssystem Strasse und Strassenverkehr zu verbessern. Mehr über die Methode in unserem Blogbeitrag Contextual Inquiry.
Analyse des Fachgebietes
Neben Beobachtungen und Interviews mit Nutzer – idealerweise im Arbeitsumfeld – sind hier auch Gespräche mit Fachexpertinnen nützlich, um das Fachgebiet besser zu verstehen.
Intensive Zusammenarbeit mit den Nutzer bei Tests
Mithilfe einer gemeinsamen Retrospektive nach dem Test bündeln Nutzer und Testerinnen ihr Fachwissen, um die Usability-Probleme der bewerteten Anwendung zu verstehen. Es kann zum Beispiel die Aufzeichnung der Beobachtung im Anschluss gemeinsam mit dem Nutzer interpretiert werden.
Expert Walkthrough
Bei einem Expert Walkthrough wird eine Anwendung von einem UX-Experten gemeinsam mit Fachexpertinnen durchgespielt, um potenzielle Probleme gemeinsam zu identifizieren und diskutieren. Auf diese Weise zeigen sich sowohl fachliche Probleme als auch Probleme bei der Nutzung.
Usability Heuristiken
Die Nielsen Norman Group hat 10 Heuristiken zur Bewertung von Usability definiert, die auch für die Analyse von komplexen Anwendungen geeignet sind: 10 Usability Heuristics Applied to Complex Applications. Dazu gehören z.B. Konsistenz der Elemente, sichtbarer Systemstatus oder minimalistisches Design.
Mehrwert von UX in Fachanwendungen
Eine gute User Experience ist auch für Fachanwendungen essentiell. Sie macht Aufgaben einfacher, übersichtlicher und reduziert die kognitive Anstrengung. Wir haben die wesentlichen Argumente für UX bereits in einem Blogbeitrag zusammengefasst. Und nicht zuletzt macht die Arbeit mit nutzerfreundlichen Anwendungen mehr Spass und fördert die Motivation der Mitarbeitenden.
Möchten Sie mehr darüber erfahren, wie wir die komplexen Aufgaben Ihrer Mitarbeiter vereinfachen können? Kontaktieren Sie uns, wie unterstützen Sie gerne.
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