Gute Daten sind nur wertvoll, wenn wir sie verstehen. Genau hier beginnt Data Literacy oder Datenkompetenz. Der Thurgauer «MoniThur» ist ein System von Indikatoren zur Beurteilung der Nachhaltigen Entwicklung des Kantons. Anhand des Indikators «Distanz zum öffentlichen Verkehrssystem» lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie gute Datenaufbereitung und -vermittlung komplexe Zusammenhänge greifbar macht. Ein Blick darauf lohnt sich – nicht nur für Datenprofis.
Ich bin kein UX-Design- oder UX-Writing-Spezialist (dafür haben wir natürlich eigens Fachleute bei EBP), aber der Newsletter aus dem Amt für Daten und Statistik Thurgau vom Montag hat mich zu einem interessanten Praxisbeispiel geführt: Nämlich zum Indikatorensystem MoniThur für die Nachhaltige Entwicklung im Kanton Thurgau und zum Indikator «G4.1 – Distanz zum öffentlichen Verkehrssystem».
Aus meiner Sicht (der eines Daten-Spezialisten) ist die Präsentation dieses Indikators ein Good-Practice-Beispiel für Data Literacy. Ich versuche, das anhand der folgenden zwei Abbildungen aufzuzeigen.
Gesamtansicht

Abbildung 1 (oben) zeigt die Gesamtansicht. Anhand der blauen Nummern sieht man darin:
- Titel des Indikators
- Kurze Erklärung, wohin der Indikator sich bei positiver Entwicklung der Nachhaltigkeit bewegen sollte – hier: «Abnehmen oder halten». Das geht aus der Innensicht der Fachleute gerne vergessen: Dass nicht immer allen Leserinnen und Lesern evident ist, was denn eine «gute Entwicklung» ist! Zu diesem Phänomen (zu was nicht… 🙂) gibt es – etwas verallgemeinert – einen schönen xkcd-Comic.
- Beschreibung der Entwicklung (ergänzend zum Punkt 6)
- Bewertung der Entwicklung des Indikators in einer Grafik. Negativ: Diese Grafik hat mich lange verwirrt. Ich habe zuerst gedacht, MoniThur hätte Indikatoren, die ab 2005 oder ab 2022 vorhanden sind, und der vorliegende sei in der ersten Gruppe. Tatsächlich sagt die Grafik aber aus, dass die Entwicklung seit 2005 normativ positiv verlaufen ist und dass seit 2022 noch keine Daten vorliegen. Ich denke, das könnte besser vermittelt werden 😐
- Beschreibung der Bedeutung des Indikators und was dieser bezüglich Nachhaltige Entwicklung aussagt. Hier ist meines Erachtens der folgende Einschub nicht optimal: «insbesondere auch jene Bevölkerungsgruppen, die auf den ÖV angewiesen sind (u.a. Kinder und Jugendliche, ältere Menschen, Menschen mit einer Behinderung)». Ich glaube nicht (bzw. sehe keine Anhaltspunkte), dass die genannten Menschen in der Berechnung des Indikators speziell gewichtet worden sind. «insbesondere» kann fälschlicherweise aber so aufgefasst werden.
- Interaktive Visualisierung der Entwicklung des Indikators (ergänzend zum Punkt 3) mit Download-Link. Auch sehr gut: Die Datenquellen für den Indikator sind hier aufgeführt. Der Hinweis könnte (sollte) meines Erachtens im Idealfall auch irgendwo im Text erfolgen. Ein Detail: Die HAFAS-Fahrplandaten sind mit-aufgeführt. Da der Indikator nicht die sogenannten «Haltestellenkategorien» des Bundesamts für Raumentwicklung verwendet (vgl. die Berechnungsmethodik für ÖV-Güteklassen), erachte ich diese Quellen-Nennung als unnötig.
- Schilderung der Gründe für die Veränderungen des Indikators. Eine sehr gute Kürzest-Diskussion der Umstände, die vermutlich zur beobachteten Entwicklung führen. Kür wäre hier meines Erachtens, wenn zu Aussagen wie «Zwischen 2005 und 2021 stieg die Anzahl der ÖV-Haltestellen im Kanton Thurgau» direkt auf Daten verlinkt würde (bzw. werden könnte), die das zeigen. Aber klar: Diese Daten gibt es nicht immer bereits schön aufbereitet im Internet.
- Weitere Details → siehe die Detailansicht im nächsten Abschnitt.
Detailansicht

Abbildung 2 (oben) zeigt die Detailansicht zum Indikator im Akkordion-Modus (in der Abbildung habe ich künstlich alle Elemente gleichzeitig aufgeklappt). Anhand der blauen Nummern sieht man:
- Definition des Indikators, mit Masseinheit
- Aufzeigen der Grenzen der Aussagekraft. Dieser Punkt hat mich aus #DataLiteracy-Sicht besonders beeindruckt! 💯 Ich bin nicht sicher, ob ich das überhaupt schon irgendwo gesehen habe bei der Präsentation eines Datensatzes oder eines Indikators!
Kleiner Wermutstropfen (aber auch: déformation professionelle meinerseits): Vergessen ging hier aus meiner Sicht einzig der Hinweis, dass die Luftliniendistanz von beschränkter Aussagekraft für die Zugänglichkeit des ÖV-Angebots sein kann – beispielsweise wenn die nächste ÖV-Haltestelle auf der anderen Seite eines Flusses, einer Autobahn oder einer Bahnlinie ohne Querungsmöglichkeit gelegen ist. Wir nutzen dafür mit Walkalytics eine eigene Modellierung für fussgängige Erreichbarkeit (Website, Walkalytics hier im Blog; siehe auch die folgende Abbildung).Beispiel einer Walkalytics-Anwendung: Die Farben im Hintergrund stellen Gehzeiten von ÖV-Haltestellen dar. Die roten Symbole zeigen die ständige Wohnbevölkerung. Man beachte im linken unteren Viertel den Effekt der Autobahn – mit einer Überführung
- Auflistung thematisch verwandter Indikatoren mit Verknüpfung innerhalb von MoniThur
- Bezug zu relevanten Sustainable Development Goals (SDGs): Das ist nützlich für die noch bessere Einordnung der präsentierten Informationen. Hier wäre es vielleicht nicht falsch, «SDG» auszuschreiben für Personen, die wenig mit dem Thema vertraut sind und die direkt auf dieser Indikatoren-Seite landen.
- Links zu weiteren Quellen über MoniThur und den Kanton Thurgau hinaus. Besonders Interessierte können sich somit weiter in das Thema vertiefen.
Fazit
In unserer immer stärker mit Daten operierenden Gesellschaft ist Data Literacy oder Datenkompetenz enorm wichtig. Deshalb diskutiert zum Beispiel auch das DIZH Public Data Lab (das ich als Beirat unterstützen darf) prominent über Indikatoren und Data Literacy. Letztere umfasst gemäss der Schweizer Data Literacy Charta «die Fähigkeiten, Daten [unter Einhaltung datenethischer Grundsätze und des Datenschutzes] auf kritisch-reflexive Weise in ihrem jeweiligen Kontext zu sammeln, zu verwalten, zu bewerten und zu verwenden.»
Organisationen, die Daten und datenbasierte Erkenntnisse verbreiten, sollten meines Erachtens investieren, um die Datenkompetenz ihres Zielpublikums zu fördern. Schliesslich steigert gute Datenkompetenz auch die Wertschöpfung aus Daten und aus daraus abgeleiteten Erkenntnissen. Dies gilt meiner Meinung nach in besonderem Mass für staatliche Akteure. Auch wenn einige Punkte noch verbessert werden können, zeigt das obige Beispiel meines Erachtens sehr schön: Das Fördern von Datenkompetenz kann durch eine sorgfältige Gestaltung der Vermittlung einer datengestützten Aussage erfolgen.
Was sind Ihre Erfahrungen zur Informationsvermittlung und zu Data Literacy? Und welches Praxis-Beispiel finden Sie besonders gelungen?
(Header-Bild: Vitaly Gariev)